Die Symphonie der Stille
09.12.2016
Bild: Jarle I. Kvam
Es geschieht jetzt. Das Land kehrt zu sich selbst zurück. Die Kälte hebt den Zeigefinger und bringt die Landschaft zum Schweigen. Willkommen zu Hause im Winter.
Der Frost schleicht sich an die Nächte heran und färbt die Welt friedensweiß. Eiskristalle glitzern in der Morgensonne und zeigen, dass sie Sternenkinder sind. Dann werden die Fjorde und die Vögel langsam leise. Die Kälte hebt den Zeigefinger und bringt die Landschaft zum Schweigen, denn der Winter gehört zur Symphonie der Stille. Dann leeren sich die Bäume, und die Farben werden aus dem Wald, den Mooren und den Seen herausgesaugt. Sie wussten, dass sie nur für eine geliehene Zeit hier waren. Das steht im Vertrag zwischen Sommer und Winter.
Im Herbst strecken sich die Berge nach dem Sommerschlaf und kleiden sich in weiße Schleier, um zu zeigen, wer die eigentlichen Könige im Land sind. Schon im Spätsommer können wir es spüren. Es wird langsam kalt, den Morgenkaffee draußen auf der Treppe zu trinken. Aber in Wollpullovern sitzen wir immer noch dort. Es ist, als ob die Luft sich zum Kampf bereit macht. Sie trippelt in der Türöffnung und berichtet, dass etwas kommen wird. (…)
Die Dunkelheit breitet sich über die Nacht und Der große Wagen lugt hervor. Vielleicht um uns zu zeigen, wo wir alle enden werden. Das Schwarze bedient sich vom Tag, aber jetzt ist die Zeit, wach zu werden. Du kannst im Norden keine Angst vor der Dunkelheit haben.
Dann kommt der erste Schnee. Schicht für Schicht einzigartige Schneekristalle. Wie puderzuckergestreuter Sternenstaub. Bis es wieder ein Eisland geworden ist. Norwegen fühlt sich so am wohlsten – in schwarz und weiß. Das Land wurde für dieses Klima gebaut. Wir sind aus diesem Klima gebaut. Frühling und Sommer ist wie nachgeschenkter warmer Kaffee in einer lauwarm gewordenen Tasse. Kälte, Frost und Schnee machen uns zu dem, was wir sind.
Der Herbst weckt es in uns. Feuchtwarme Sommerwinde werden durch eiskalte Lebenskraft ersetzt, eine Kraft, die auch die Menschen, die vor uns lebten, eingeatmet haben, eine Urkraft, die vom Überleben berichtet, ein ausgestreckter Arm von den Menschen, die uns zu den Menschen, die wir heute sind und weiter sein werden, geschliffen haben. Wir sind die Verlängerung von ihnen. Sie pflanzten den Instinkt in uns, der uns immer noch unzugängliche Bergspitzen erklimmen und in Unwetter hinausgehen lässt. Angesicht zu Angesicht mit dem stehen, was uns als Erbe überreicht wurde. Der Herbst erinnert uns, warum wir wir geworden sind, und warum wir hier sind. Norwegen ist für Menschen mit besonderen Interessen, die in die Kälte hinaus wollen, hinaus in das Wetter und in die Landschaft hinein. Um sich selbst zu begegnen. Und um das Land willkommen zu Hause im Winter zu wünschen.
Autorin: Kristina Olsson Rogstadkjærnet aus Flekkefjord, Norwegen
Übersetzt von Vera Bartholomay
Ursprünglich erschienen unter: http://harvest.as/artikkel/stillhetens-symfoni
Kategorien: Heilsame Berührung , Inspirationen, Lebensfragen | Schlagworte: Achtsamkeit, Natur, Norwegen
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