Menschen, die beWEGen (1)
01.01.2015
Du bist wichtig
Diese neue Themenreihe handelt von Menschen, die etwas beWEGen. Die uns alle durch ihre Besonderheit und ihren Mut zu neuen WEGen beWEGen, die uns durch ihre Geschichte beWEGen und berühren.
Dieser Text ist ein privater Nachruf. Vielleicht fragst du dich, warum ich ihn hier veröffentliche? Weil ich glaube, dass dieser Nachruf Bedeutung haben könnte für andere. Vor allem für die vielen, die denken, dass sie als einzelne Personen nicht wirklich etwas ausrichten können. Insbesondere für die vielen Lehrer, die längst aufgehört haben zu glauben, dass sie für ihre Schüler wichtig oder gar entscheidend sind. Um uns alle erneut zu überzeugen, dass es möglich ist „to make a difference“.
Sigrun Gjennestad war meine Englischlehrerin in der Oberstufe. Sie war dennoch immer nur eine einzelne, sehr individuelle Person und vertrat nie eine größere Gruppe, hatte nie ein ganzes System hinter sich. Dafür war sie zu eigensinnig und zu kritisch. Sie war Lehrerin aus vollem Herzen. Viele Jahre nach ihrer Pensionierung sagte sie mir einmal: “Ich habe jeden einzelnen Schultag geliebt. Nie bin ich ungern in die Schule gegangen.“
Zu ihren herausragenden Eigenschaften gehörte eine ganz seltene natürliche Autorität. Von ihr habe ich gelernt, wie ein bloßes Dasein Autorität ausstrahlen kann, ohne Macht auszuüben. Sie wurde nie laut, hat keine Strafen verteilt. Wir haben an ihren Lippen gehangen und hätten fast alles für sie getan.
Immer hat sie uns entscheidende Fragen gestellt. Der Englischunterricht bildete nur den Rahmen. In Wirklichkeit haben wir drei Jahre lang über die großen Lebensfragen geredet. Die Lektüre für den Unterricht wie „The Catcher in the Rye“ und ähnliche Bücher boten dafür eine willkommene Grundlage. Immer wurde uns das Gefühl vermittelt, es komme wirklich auf die ganz eigene Meinung an. Unsere Gedanken zu all diesen Themen waren ihr enorm wichtig.
Besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine Unterrichtsstunde, in der sie sagte: „Manchmal steht man im Leben an einem Scheideweg und muss wählen. Gehe ich diesen oder den anderen Weg? Und nicht immer ist es eine leichte Wahl, denn der gewählte Weg führt auch Verlust und Verzicht mit sich. Könnt ihr euch etwas darunter vorstellen?“ Wir konnten uns nichts darunter vorstellen. Unsere Zukunft lag damals als geradliniger, heller Weg vor uns – voller bunte Spielvarianten. Über Scheidewege dachten wir nicht nach. Erst recht nicht über Verzicht. Aber die Art und Weise, wie sie diese Frage stellte, blieb mir in Erinnerung. Und bei meinem ersten ernstzunehmenden Scheideweg dachte ich an sie.
Immer wieder war sie aufs Neue eine Suchende. In all ihren Themen und Reflexionen blieben immer Fragezeichen. Nie war sie ganz sicher. Nie hat sie es besser gewusst. Sogar vor den Schulklassen wagte sie eine tiefe und beeindruckende Ehrlichkeit, die große Authentizität zeigte.
Ich weiß, dass sie auch sehr schwere Jahre hatte. Und dass sie den Mut hatte, offen darüber zu sprechen.
Wir haben uns noch lange nach dem Abitur geschrieben. Und Gott sei Dank habe ich ihr viele Jahre später erzählt, wie wichtig sie für mich war und wie sehr ich sie bewundert habe.
Vor kurzem trafen sich einige ihrer Schüler und einzelne berichteten, dass sie ja wohl ihre Lieblingsschüler damals gewesen waren. Na, das dachte ich ehrlich gesagt auch von mir… Welch eine Gabe dieser Lehrerin, dass so viele ihrer Schüler von ihr das Gefühl vermittelt bekamen, für sie etwas ganz Besonderes zu sein.
Ein geliebter Mensch. Danke, liebe Sigrun, dass wir einen Teil des Weges mit dir gehen dürften.
Kategorien: Glück, Inspirationen, Lebensfragen, Persönlichkeitsentwicklung | Schlagworte: Authentizität, Menschen, Norwegen
Kommentare
Rike Schmitt sagt:
06.01.2015 um 13:27 Uhr
Liebe Vera, als ich Deinen so wunderbaren Eintrag las, musste ich ebenfalls an zwei Personen denken, die für mich etwas ganz Besonderes waren. Die erste Person war meine Grundschullehrerin in der dritten Klasse. Ich war richtig verliebt in sie. Sie war für mich wie ein strahlender Engel, ihr Einfühlungsvermögen absolut prägend. Sie war es auch, dass in mir der kindliche Wunsch entstand:" Ich werde einmal Lehrerin". Mit dem Brustton der Überzeugung stand es für mich fest, und nichts und niemand hätte mich davon abhalten können, das Gymnasium aufzusuchen. Und dort begegnete mir meine Lateinlehrerin, die mich und auch andere unter ihre Fittiche nahm. Eine ganze Zeit wurde sie meine Begleiterin, bis sie erkrankte. Irgendwann verließ ich das Gymnasium, dennoch habe ich noch Jahre später an sie gedacht. Da fällt mir augenblicklich noch jemand ein. Mein damaliger Kunstlehrer. Er verstand es, sich in uns einzufühlen. Er spürte ganz genau, ob es uns gut ging oder nicht. Er suchte das Gespräch und immer waren da die empathischsten Worte. Schön. Richtig schön, dass Du uns diese Möglichkeit geschenkt hast, an "wichtige" Menschen in unserem Leben zu denken. Danke von Herzen.... Grüße Rike
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Andrea sagt:
02.01.2015 um 08:26 Uhr
Liebe Vera, auch ich hatte so eine Deutsch- und Englischlehrerin, die ihren eigenen Weg ging, die anders war, vielleicht nicht so geliebt wie deine. Aber sie hinterließ Spuren, die ich in meinem Leben zu Pfaden lief, die immer wieder einmal meinen Weg kreuzen und so wie eine Flamme Lichtblicke während meiner Lebensreise aufleuchten lässt. Auch ihr danke ich für ihre Lebensschule. Liebgruß Anrdea
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Vera Bartholomay sagt:
04.01.2015 um 04:59 Uhr
Liebe Andrea, wie schön, dass es auch für dich so jemand gab. Ich glaube, es sind Heerscharen davon unterwegs und die meisten erfahren es nie und würden sich nicht als "wirklich wichtig" einstufen. Deshalb war es mir ein Anliegen, darüber zu schreiben. Gruß, Vera